Mord als Zugabe
INFO
Paperback
188 Seiten, EUR 14,80
ISBN: 978-3-903273-13-9
E-Book ISBN: 978-3-903273-14-6
188 Seiten, EUR 8,20
Erscheinungsdatum: 09/2023
Sprache: Deutsch
INHALT
Eine in die Jahre gekommene Rockband, deretwegen in den späten 70ern zahllose Jugendliche ihr Gehör und ihre Erbschaftsansprüche verloren, gibt ihr Revivalkonzert.
Eigentlich ist Kommissar Eckensperger mit seinem neu zusammengewürfelten Team lediglich als Verstärkung des Polizeiaufgebots vor Ort. Doch bald gilt es einen Todesfall auf der Open Air-Bühne aufzuklären. Als Zugabe sozusagen. Und statt der Musiker tritt unerwartetet die Spurensicherung auf.
Mit Wortwitz, Charme und Spannung führt Lis Levell die Zuhörerschaft in die Welt des Rockbusiness, deren Protagonisten auf den ersten Blick alle gängigen Klischees erfüllen. Abseits der Bühne jedoch bröckeln die Starallüren und die unnahbaren Helden entlarven sich mit ihren Schwächen und Trivialitäten.
LESEPROBEN
Leseprobe 1
Wenn man zweimal leben könnte
Da lag sie nun – Nicole Sedlacek, die beherzte, mitfühlende, stets gut gelaunte Kriminalbeamtin. Hingestreckt auf dem kalten, unappetitlichen Estrich der Tiefgarage. Das rechte Bein unnatürlich verdreht durch den jähen Aufprall, ein klebriger, roter Fleck auf der linken Brusthälfte, der sich langsam ausweitete, ihre Dienstwaffe, die sie nicht mehr abfeuern hatte können, sinnlos griffbereit auf dem Boden neben ihr.
Sebastian Seiler, engster Berufskollege und Mitstreiter in der Abteilung Gewaltverbrechen, breitete eine Rettungsdecke über die reglose Gestalt und murmelte ungerührt: »Typischer Anfängerfehler, Nicole. Oder wie du mich frauenrechtlerisch und ein wenig aufmüpfig korrigiert hättest: Anfängerinnenfehler!«
»Sparen Sie sich Ihren Nachruf, Seiler«, grantelte Gernot Eckensperger, Leiter des Morddezernats und direkter Vorgesetzter der beiden. »In fünf Minuten im Büro zum Besprechen der Übung. Auch Sie, Fräul… äh … Frau Kollegin Wagemutig. Auf, auf! Und basteln Sie schon mal eifrig an einer gehörigen Rechtfertigung für Ihr riskantes, um nicht zu sagen saublödes Manöver.«
Die Gescholtene schlug die Folie zur Seite und erhob sich umständlich. Ihr Knie schmerzte vom Sturz nach der lebensnahen Umsetzung des auf sie abgefeuerten »Todesschusses«. Sie nahm ihre Pistole an sich, klopfte den Staub von der Uniform und hinkte den Männern hinterher.
Neben der Aufzugstür lümmelte der junge Polizist, der den flüchtenden Täter gemimt und auf sie gezielt hatte.
»Mitten ins Herz und das aus einer Entfernung von 30 Metern. Und als Draufgabe fällt mir die verehrte Kollegin noch ›vor die Füße‹. Hinreißend!«
»Dann werden es keine 30 Meter gewesen sein! Oder welche Schuhgröße haben Sie?«, knurrte Nicole, deren Wut in erster Linie gegen sich selbst gerichtet war.
Einsatzfreude und Risikobereitschaft, gesunde Dienstauffassung und Hingabe an den Beruf, schön und gut. Aber zu welchem Preis?
»Solche Übungen sind genau dazu da, um ähnliche Fehler im beruflichen Alltag zu vermeiden«, beruhigte sie sich.
Exakt das würde sie ihrem grobklotzigen und manchmal auch großkotzigen Chef beim nun folgenden Evaluierungsgespräch entschlossen erklären. Und im selben Atemzug, dass er sie nicht immer wieder »Fräulein« oder neuerdings »Frau Kollegin« mit mehr oder eher weniger schmeichelhaften Zusatzbezeichnungen nennen solle.
Zugleich wusste die emanzipierte Beamtin, beides würde vom Tisch gefegt werden. Ihr Chef duldete keine Fehler, strohdumme, leichtsinnige schon gar nicht, weil er über das beste Team verfügen wollte. Und seine Einstellung zu genderkonformer, respektvoller Sprachsensibilität war ihr ebenso hinlänglich bekannt.
»Einem Bullen kann man eben keinen Spitzentanz beibringen«, hatte sie ernüchtert zur Kenntnis nehmen müssen.
Deshalb hielt sich Nicole seine positiven Eigenschaften vor Augen. Und das Bild vom Stier im zuckerlrosa Tutu. Meist musste sie dabei schmunzeln. Heute funktionierte dies nicht wirklich. Ja, er würde sie und gewiss auch Sebastian, der ihr nur mäßig Deckung gegeben hatte, zur Schnecke machen und mit Vorwürfen zuschütten.
Schon einmal hatte er seiner Mitarbeiterin im Zuge einer Ermittlung in der Wohnung eines Mordopfers ermahnt, sie müsse jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen. Allerdings war es damals bloß um das Auffinden einer – zugegebenermaßen ekeligen – privaten Reptilien- und Amphibiensammlung gegangen.
Nicoles Knie schmerzte, mehr noch die Eröffnungsworte ihres massigen Chefs mit der Stoppelglatze: »Nun, was haben Sie zu Ihrer lausigen Vorstellung zu sagen?«
Die Zurechtgewiesene räusperte sich verlegen.
»Wenn wir mit einem dritten Mann ausgerückt wären, wenn Seiler mir besseren Feuerschutz geboten hätte, wenn ich eine kugelsichere Weste getragen hätte oder irgendeine Verstärkung …«
»Wenn, wenn … hätt‘ i, war i, tät i …«, blaffte ihr Vorgesetzter. »Wir sind hier nicht bei ›Wünsch dir was‹. Bei einem Einsatz zählen konsequentes Vorgehen, eiskalte Reaktion, nacktes Kalkül und perfektes Zusammenspiel. Alles andere hat Platz bei Kinderjausen. Verstanden?«
Eckensperger legte lediglich eine Miniatemholpause ein, um sofort weiterzupoltern: »Was hat Sie dazu bewogen, einem bewaffneten Amokläufer blindlings hinterherzustürmen, ohne sich zu vergewissern, ob Ihr Einsatzpartner zur Stelle ist? Und warum, zum Teufel, machen Sie obendrein den Täter durch einen Zuruf auf sich aufmerksam?«
»Weil es Vorschrift ist«, erwiderte Nicole standhaft auf die zweite Frage. Ihre feuerrot gefärbte Haarsträhne, die vorwitzig aus dem brünetten Schopf über ihre linke Schläfe fiel, leuchtete mit den erhitzten Wangen um die Wette.
»Glauben Sie, ich würde heute hier vor Ihnen stehen, hätte ich stets vorschriftsmäßig gehandelt? Ein ›Halli hallo, hier ist die Polizei, Ihre lebende Zielscheibe!‹ heben Sie sich für eindeutige Situationen auf, und der Warnschuss muss nicht immer der erste abgefeuerte sein. Haben Sie das verstanden? Falls der Täter noch lebt, steht Aussage gegen Aussage, vor allem aber Sie sind am Leben und sein Bein schmerzt, weil Sie ihn angeschossen haben.«
»Verstanden«, nickte die pflichtbewusste Beamtin, die zwar verstanden hatte, sich jedoch mit der Sichtweise ihres Chefs keineswegs einverstanden zeigte und deshalb ein halblautes »Aussage gegen Aussage ist gut! Pah! Wenn andererseits die Sachverständigen klären, der Schuss sei direkt von hinten erfolgt, wird man mir nicht abnehmen, mich bemerkbar gemacht zu haben.« hinterherschickte.
»Papperlapapp, dann hat er eben nicht reagiert. Schließlich und endlich schreiben Sie den Bericht! Am besten, Sie schießen so, dass es erst gar nicht zu einer Gegendarstellung durch den Verbrecher kommen kann.«
»Alte Schule«, befand Nicole, wissend, dass in Eckenspergers deftigem Ausbruch gleichzeitig ein wenig Sorge um sie mitschwang. »Trotzdem möchte ich den Rüpel nicht gegen einen Bürokraten und Ja-Sager eintauschen wollen.« Sie seufzte zustimmend und bedachte ihren Chef mit einem Blick, der »Hab‘ schon kapiert« und »Brems dich jetzt ein« gekonnt kombinierte.
Der Dezernatsleiter versetzte ihr einen väterlich-sanften Fausthieb gegen die Schulter und wandte sich seinem zweiten »Opfer« zu. Warum sollte Sebastian verschont bleiben?
»So, Seiler, was haben Sie zu der ganzen unrühmlichen Geschichte anzumerken?«
»Alles bestens, ich liebe Happy Ends«, versuchte sich dieser wie gewohnt mit einer flapsigen Antwort.
Nicole wusste nicht, ob sie grinsen oder Sebi in den Hintern treten sollte.
»Lassen Sie Ihre Scherze!«, fauchte Eckensperger. »In der Realität schaut‘s nämlich düsterer aus. Da können Sie an einem geschliffenen Bericht feilen, sich vor den Gottobersten rechtfertigen und stündlich mit einer Tachtel von mir rechnen! Feuerschutz geben ist was anderes als Sie da grad zusammengestümpert haben. Ihre Reaktionszeit ist eine Katastrophe! Gehen Sie in den nächsten Supermarkt und schauen Sie den Rentnern zu, sobald eine neue Kassa aufgemacht wird. Da können Sie was lernen in dieser Hinsicht!«
Sebastian setzte zu seiner Selbstverteidigung an: »Wäre ich, wie Sie vorschlagen, dicht hinter Frau Sedlacek auf die Parklücke zugelaufen, hätte der Schütze mich im Visier gehabt und ich wäre an ihrer Stelle gelegen. Sein Mündungsfeuer …«
»Ein Happy End nach meinem Geschmack«, schnitt ihm Eckensperger das Wort ab.
Nicoles Mitgefühl und Kameradschaft zeigte sich in der Fürsprache zugunsten ihres Kollegen.
»Das war heute eine wirklich knifflige Ausnahmesituation. Auf meinen Partner kann ich mich im Ernstfall immer verlassen.«
Auf ihren Vorgesetzten machte die Behauptung minimalen Eindruck.
»Berühmte letzte Worte! Genauso wie ›Der Attentäter hat bereits sein Magazin leergeschossen‹ oder ›Gesichert, hier besteht keine Gefahr‹.«
Im Anschluss an das theoretische Feedback wurde der Ablauf der Übung bis ins kleinste Detail zerpflückt, nachgestellt und verbessert ausgeführt.
Letztendlich konnte jeder der drei befriedigende Resultate vermelden: Eckensperger hatte seinen Chefstatus gepaart mit seiner reichen Erfahrung gekonnt ausgespielt, Nicole und Sebastian hatten enorm dazugelernt und fühlten sich für die raue Wirklichkeit besser gerüstet. In erster Linie aber war der Freitagvormittag kurzweilig verlaufen, und das Team freute sich auf das Essen in der Polizeikantine, eine entspannte Mittagspause, den Dienstschluss um 15:00 Uhr und ein Wochenende ohne Bereitschaft.
Die Freude währte nicht lange. Sebastian hatte soeben seine runde Retrobrille abgenommen und zum ersten Mal an seinem obligaten Cappuccino nach dem Mittagessen geschlürft, Nicole verstohlen ihr schmerzendes Kniegelenk mit Arnikacreme aus ihrer privaten Apotheke in der zweiten Schreibtischschublade eingerieben und Eckensperger erfolglos einen Platz zum Abstellen des mitgebrachten Desserttellers auf seinem überfüllten Arbeitstisch gesucht, als nahezu synchron sanfte Signaltöne eine einlangende Nachricht auf jedem der drei PCs ankündigten. Nicole war die Erste, die das Schreiben geöffnet und die Zeilen überflogen hatte.
»Frohe Botschaft!«, verkündete sie mit sarkastischem Unterton. »Freier Samstag sowie genehmigter Zeitausgleich, auch stundenweise, gestrichen. Alle verfügbaren Kräfte müssen aufs Freiluftgelände, Rockkonzert von ›Black Fire‹ heute und morgen. Das heißt wohl Taschendieben, Drogendealern und Ticketschwarzhändlern auf die Finger schauen. Vielleicht ist sogar eine Bomben- oder Morddrohung gegen einen der Musiker eingegangen? Oder es werden Auseinandersetzungen zwischen volltrunkenen Fans erwartet? Höchstwahrscheinlich lässt unser Reservepolizeidirektor einfach Sicherheit vor Kosten gehen und beugt einem eventuellen Risiko großzügig vor.«
»So, so«, grummelte Eckensperger selbstgefällig. »Dürfen wir wieder einmal Babysitter für ein paar exaltierte, öffentlich anerkannte Krawallmacher – und damit meine ich nicht ausgerastete Anhänger, sondern die auf der Bühne – spielen?«
Nicole hob erstaunt den Kopf.
»Und ich dachte, Sie stehen auf Hardrock? ›Black Fire‹ war ja mega-in in der Generation meiner Eltern.«
Eckensperger starrte sie fassungslos an.
»Also doch mehr der Country- und Westernmusikliebhaber?«, wagte seine Mitarbeiterin einen weiteren Rateversuch.
»Keinesfalls! Und bevor Sie mich unnötig strapazieren: obendrein kein Folk, keine Militärmusikblaskapellen, weder Klassik noch Heavy Metal. Mit Musikern habe ich schlechte Erfahrungen gemacht.«
»Sagen Sie bloß?«, wunderte sich Nicole.
»Ja. Vor Jahren zum Beispiel bei einem Spontanurlaub mit meiner zweiten Frau in Nantes, der alten Hauptstadt der Bretagne, fand ich einen Hut voller Münzen. Kaum hatte ich ihn aufgehoben, wurde ich von einem wütenden Mann mit Gitarre verfolgt und aufs Heftigste attackiert. Dem habe ich aber eine verpasst und das Fundstück bei den örtlichen Kollegen von der Police nationale abgegeben.«
»Und? Was haben die gesagt?«
»Keine Ahnung, ich habe kein Wort verstanden. Die reden ja alle nur französisch.«
Leseprobe 2
Lieber Freund, man greift nicht nach den Sternen
Das zu einem Quartett angewachsene Trüppchen hatte den letzten Abschnitt des Festgeländes, den »Golden Circle«, durchquert und die Bühne erreicht. Mike verschwand sofort Richtung Backstagezone, ohne auf Eckenspergers Zustimmung oder Anordnung zu warten.
»Der schaufelt bereits an seinem Grab«, frohlockte Sebastian.
Das Ausmaß des Podiums war ebenso enorm wie die massiven Lautsprechertürme, die vom Schlagerkonzert des Vortags stehengeblieben waren.
Trotzdem wurden von zwei Roadies zusätzliche Monitorboxen aufgebaut, deren Wattanzahl jede Großraumdisco zu einer Wohnzimmeranlage degradierte. Zahlreiche Mikrofon- und Instrumentenständer lagen, großteils noch zugeklappt, vor dem schwarzen Vorhang, der als Rückwand diente.
Eine burschikose Frau in Jeans und ausgewaschenem, graugrünen T-Shirt mit platinblonder Extremkurzhaarfrisur, in die am Hinterkopf ein Zackenmuster rasiert war, klebte mit Gaffa Tape Kreuze auf den Bühnen-boden.
Es war eine Machowelt, in der sie ihren Beruf ausübte. Das wurde ihr nicht zum ersten Mal bewusst. Der jungen Technikerin auf der Bühne würde es in ihrer Branche vermutlich nicht anders ergehen. In dieser Männerdomäne Fuß zu fassen und zu bestehen, verlangte der Frau neben körperlichem Einsatz mit Sicherheit ein dickes Fell und mentale Stärke ab. Die Polizeibeamtin schenkte ihrer Artgenossin ein anerkennendes »Daumen hoch«, was allerdings mit einem nachlässigen Schulterzucken quittiert wurde. Ja, Frauensolidarität hatte wohl einen ähnlich steinigen und langen Weg vor sich wie so manche hoffnungsvolle Musikerkarriere.
Ein dröhnender Pfeifton hallte über das Areal. Nicole, die wie ihre Begleiter zusammengeschreckt war, hielt sich instinktiv beide Ohren zu.
»Ein weiterer Grund, warum ich Konzerte hasse«, nörgelte Eckensperger. »Die unvermeidliche Übersteuerung beim Einschalten der Anlage. Dazu das Katzengejammer beim Stimmen sämtlicher Instrumente. Dutzendfach ›one, two … sss … one, two … hey‹ beim Soundcheck. Schauderhaft.«
Der massige, zirka fünfunddreißigjährige Toningenieur hinter dem mächtigen Mischpult auf dem Technikturm, der geschätzte 100 Meter gegenüber der Bühne aufgebaut war, brüllte wie aufs Kommando »One, two … hört ihr mich, ihr Nieten« in sein Mikro. Seine Silben wurden mit einem mehrfachen Echo zurückgeworfen. Es summte, brummte, hallte und koppelte, was den Verursacher nicht sonderlich tangierte.
»Soundcheck Vorgruppe«, schmetterte er, flankiert von zwei neuerlichen, unangenehm hochfrequenten Tönen, aus seinem luftigen Technikersitz. »Ina und Peter. Rauf mit euch. Time is money, ihr Loser, haha.«
Ein Duo erkletterte das Podium.
Beide schleppten ihre Instrumente, einen Akustik-Bass und eine Westerngitarre mit Abnehmerkabel, sowie ihre Mikros in fertig montierten Stativen eigenhändig auf die Bühne. Hastig suchten sie sich einen Platz, stellten die Dreibeine ab, hängten sich ihre Saiteninstrumente um und stoppelten sie in die bereitliegende Steckerleiste.
Die brünette, langhaarige Frau in einem bunten Gypsykleid nickte ihrem Begleiter bestätigend zu, begann mit einer angenehm-rauchigen Altstimme zu singen und startete ein Solo in den höheren Lagen ihres Basses.
»Passt wunderbar, das reicht«, ließ sich der Tontechniker rasselnd und pfeifend vernehmen. »Peter, jetzt du. Gib Gas, ich hab‘ nicht ewig Zeit.«
Der Musiker wollte anscheinend etwas erwidern, spielte jedoch kopfschüttelnd einige Takte und intonierte einen bekannten Protestsong. Ein wiederholtes Kopfschütteln, ein Blick auf das Stimmgerät am Gitarrenhals. Dann brach Peter seinen Gesang ab und begann, die A-Saite nachzutunen.
»Gestimmt wird backstage«, brüllte der Choleriker am Mischpult und schloss ein ungeduldiges »Aus, das genügt! Vorgruppe fertig.« an.
»‘tschuldigung, Jack, wir haben noch nicht einmal einen gemeinsamen Refrain gesungen, geschweige denn unsere Instrumente lautstärkenmäßig angeglichen. Ich brauche ein paar hohe Mitten und …«
»Schreib eine Wunschliste ans Christkind«, höhnte der Toningenieur. »Das langt schon, du Bob Dylan-Abklatsch. Mach‘ ich alles nachher live beim Auftritt. Runter von der Rampe, es folgt der Soundcheck für Manny und seine Truppe.«
»Sorry, aber die Monitore sind nicht on, wir hören uns bloß über die Hauptanlage von der Seite, also indirekt«, wagte der Sänger einen weiteren Vorstoß in Sachen Professionalität.
»Die sind auch nicht für euch, die Monitore. Ihr seid die VORBAND! Ab mit euch. Mikroaufbau für ›Black Fire‹, Kaaarin!«
Das Folk-Duo trollte sich verärgert samt Sack und Pack davon. Eilig schleppte die blonde Technikerin einige Mikrofonständer in den Vordergrund und platzierte sie über den zuvor aufgeklebten Markierungen, während ein ausgemergelter Mann unschätzbaren Alters in abgewetzter Lederjacke und dunkelgrauen Jeans die Bühne betrat. Er holte unterschiedliche Mikrofone behutsam aus einem Metallkoffer und machte sie startklar. Bei jedem kratzte er leicht mit seinem Zeigefingernagel an der Kapsel, um sich zu versichern, ob diese tatsächlich eingeschaltet und den richtigen Kanälen am Mischpult zugeordnet waren. Er agierte routiniert, gleichzeitig lässig und wirkte, als hätte er selbst die geringste Einzelheit auf dem weiträumigen Podium mit den vielfältigen Utensilien im Blick und im Griff. Über das Mikro des Leadsängers stimmte er, möglicherweise durch Jacks Verunglimpfung des Vorgruppensängers inspiriert, »Knockin‘ On Heaven‘s Door« in einer bluesigen Version an. Er hatte eine eindrucksvolle, markante Stimme, die Nicole sofort faszinierte.
»Der ist echt gut«, stellte sie fest und starrte gebannt auf den mageren Sänger mit dem schwarz-roten Bandana über seinen gewellten, dunklen Haaren. Der bückte sich und öffnete der Reihe nach drei Cases mit der Lead-, Rhythmus- sowie Bassgitarre und spielte ein paar Takte auf dem mittlerweile angesteckten E-Bass, bevor er ein atemberaubendes Solo auf der Anlage des Leadgitarristen losließ.
»Meister, check mal auf der Fünf die Präsenzen zwischen zwei und vier Kilohertz und regle den Hochpass bei 120 Hertz etwas nach, da würden 12 dB Flankensteilheit reichen«, rief er dem Techniker über eines der Mikros zu.
Der hatte sich unterdessen eine Zigarette angezündet und war intensiv mit seinem Handy beschäftigt.
»Ein bisschen weniger Starallüren, Eric«, tönte es beiläufig zurück. »Du bist der Bühnentechniker, nicht die Mitternachtseinlage.«
»Ich mach‘ bloß meinen Job«, verteidigte sich der Angepflaumte. »Und würdest du deinen ebenso einwandfrei erledigen, hättest du den Brumm auf dem System bereits eliminiert und für einen knackigen Sound auf dem Bass gesorgt.«
Unruhe am rechten Rand des Sektors lenkte Nicole von dem sich aufschaukelnden Wortwechsel ab.
Witzig! Da näherte sich ein Golfwagen. An Bord saß ein langmähniger Haudegen in schwarzer Lederkluft mit Bikerstiefeln, der irgendwie an einen Habicht erinnerte, daneben eine Matrone von Frau mit orangem, wirr-zerzaustem Haarschopf. Beide mussten weit in den Sechzigern sein und wirkten, als hätten sie ihr Leben mit allem, was giftig, gesundheitsschädlich und der Vitalität abträglich ist, zugebracht. Also ungenügend Schlaf und Vitamine, dafür reichlich Alkohol, Nikotin, Stress und jede Menge kleiner Helferleins, die den Stress abzubauen versprachen.
Bald war klar, es handelte sich um niemand Geringeren als Manny, den Sänger, Rhythmusgitarristen und Bandleader von »Black Fire«, begleitet von Nancy, seiner ausdauernden Muse, ehemaligen Chorsängerin und nunmehr langgedienten Promotionlady der Gruppe.
»Auftritt des gealterten Rockstars, wahrscheinlich mit einer Kiste Bourbon und einem halben Kilo Pot im Gefährt«, wisperte Nicole verhalten in Richtung Sebastian.
»Alles Klischees«, ertönte es belegt in ihrem Nacken. Erst jetzt merkte die Polizistin, dass Eckensperger mit Seiler den Aufgang zur Bühne an der linken Breitseite inspizierte und sich hinter ihr der Rest der Crew versammelt hatte. Ein wildes Quartett mit rauem Charme.
Das heisere Organ gehörte ganz offensichtlich dem Drummer der Formation, denn der am Schädel kahlrasierte Typ mit wildem Rauschebart hielt ein Paar Sticks in seinen Händen. Untenrum steckte er in einer Patchwork-lederhose in verschiedenen Braun-, Grau- und Ockertönen, oben in einem speckigen, ursprünglich wohl hellbraunen Raulederwams über seiner nackten, dicht behaarten Brust.
Lautstark ließen sich die vier in die Jahre gekommenen Hardrocker an einem der drei Holz-tische vor der Bühne nieder, die gemeinsam mit sechs Bänken für die Zeit der Probe aufgebaut worden waren. Einer der Musiker »servierte« einen plastikverschweißten Tray mit 24 Bierdosen, der augenblicklich aufge-rissen wurde. Im Nu hatte sich jeder eine Dose gefasst, diese genussfreudig zischend geöffnet und blechern angestoßen.
Mit den Büchsen an den Lippen erwartete die Gruppe das Eintreffen ihres Chefs. Der fing die ihm zugeworfene Bierdose geschickt auf, warf sie umgehend zurück und zückte eine halbvolle Ginflasche, aus der er einen gierigen Zug nahm. Inzwischen kletterte die füllige Frau verdrossen und offenkundig schmerzgeplagt aus dem Wägelchen und schaffte etliche Gepäckstücke zum Tisch.
»Nancy-Liebling«, wurde sie von einem wildmähnigen Bandmitglied in bodenlangem Ledermantel, schwarzem Schlapphut, unter dem sein rechtes, mit mehreren kleinen Silberringen perforiertes Ohrläppchen hervorlugte, mit einer diffamierenden Rüge empfangen, »warum hängen heute überall noch die Plakate von diesem Schlagerjonny? Was ist mit der Ankündigung unseres Gigs?«
»Keine Ahnung«, ächzte die Gefragte träge, schlug den Kleidersaum hoch und massierte ihre angeschwollenen Knie.
»Ist das nicht deine verdammte Aufgabe, davon eine Ahnung zu haben?«, fuhr Manny sie an, der sich sichtlich vor seiner Crew keine Blöße geben wollte.
Nancy warf ihm einen bitterbösen Blick zu und holte einen Packen Flyer sowie einen Poncho für die kühlen Abendstunden aus einer der mitgebrachten Taschen.
»Soundcheck, ihr Lieben, auf, auf«, ertönte es klirrend-verzerrt vom Toningenieur. »17:00 Uhr war vereinbart. Typisch, wieder eine halbe Stunde zu spät alle miteinander. Bis grad noch völlig verkatert im Tourbus gelegen, wie ich euch kenne.«
»Von dem da oben will keiner gekannt werden«, flüsterte der Schlagzeuger kratzig in Nicoles Ohr, während er sich im Einklang mit seinen Bandkollegen das nächste Bier genehmigte.
»Ach, Eric macht das schon«, verkündete Manny widerwillig. »Klingt absolut super.«
Der alte Rocker hatte in seinem ausgiebigen, harten Musikerleben anscheinend einiges an Hellhörigkeit verloren, denn selbst technischen Laien war die Bescheidenheit der Verstärkung nicht entgangen.
»Komm endlich auf die Bühne, Manny«, ließ sich Eric durch eines der zuvor getesteten Mikrofone vernehmen. »Gesang einstellen, Höhen abgleichen. Deine Stimme hat doch ein komplett anderes Volumen als meine. Außerdem bin ich nicht sicher, ob die Position für deine Gitarre …«
»Keine Lust«, kam es wenig engagiert von Manny zurück.
Dessen Einsatz für einen Act dieser Größenordnung, von dem er sich kräftige Impulse für ein Comeback versprach, ließ gehörig zu wünschen übrig. »Probier das besser mit unseren Roadies aus. Nick und Luuk kannst du gern wie Schachfiguren hin- und herschieben, bis alles passt. Ich will jetzt zuerst in die Maske. Und dann brauch‘ ich dringend eine Massage, damit meine linke Schulter die zwei Konzertstunden den Gurt mit der sauschweren Gitarre aushält. Schließ mir rasch mal den gestern getesteten Verzerrer ans Pedalboard an und lass dir ordentlich Hall auf das Ganze geben. Du weißt schon, dieses amerikanische ›Vintage-Röhren-Kistl‹, wie du es immer nennst. Heute fangen wir unser Programm nämlich der Abwechslung halber mit ›Dark And Heavy‹ an.«
Empörtes Raunen ging durch die Truppe. Niemand war mit dem impulsiven, unausgegorenen Vorschlag einverstanden, das war deutlich zu sehen.
Einer aus dem Ensemble, der ein T-Shirt mit der hintergründigen Aufschrift »Gib dem Leben einen Gin« trug, suderte: »Super Timing für Ungeprobtes! Wär‘ toll, wenn du mit deinen Gitarreeinsätzen und beim Singen ebenso auf den Punkt wärst, Manny!«
»Hey, Charly, ich setze nicht unexakt ein, das ist eine Frechheit! Ich treffe spontan kreative Entscheidungen!«
»Die Entscheidung, unsere Fans zu vergraulen?«
Nicht nur die Musiker waren gereizt, auch Eric wirkte missmutig, geradezu ärgerlich, trabte jedoch wie angeordnet zu einer mit Schmutzflecken übersäten, dunkelgrauen Sporttasche. Karin stand abwartend daneben, bückte sich sodann auf Erics Anweisung und fischte eine mittelblaue Mehrfachsteckdose mit kurzem Anschlusskabel heraus. Danach wischte sie sich ihre Hände angeekelt in der Jeans ab, wohingegen Eric – eine Menge Kleinzeug zur Seite räumend – das gewünschte Effektgerät aus der Tiefe angelte.
»Wirf die Kiste an, Alter«, forderte Manny seinen Bühnentechniker auf.
»Und du«, brüllte er zum Mischturm hinauf, »zeig mal, was deine Superanlage so hergibt.«
Der übliche Pfeifton ertönte, als der Angesprochene die Regler bis zum Anschlag hochzog.
Eric hielt sich mit einer Hand am Mikrofonständer an, um leichter in die Hocke zu kommen und schloss den Verzerrer ans Netz. Ein kurzes Britzeln, ein beachtlicher Knall, der Mann sackte zusammen.
»Scheiße«, brüllte der fette Jack am Mischpult. »Hat mir der Vollkoffer die Monitore geschossen, ist das zu glauben?«
Der Beschimpfte rührte sich nicht.
Karin näherte sich der Gestalt mit zögerlichen Schritten.
Auch Eckensperger widmete sich nun angelegentlich der Szene auf der Bühne, die ihm – genauso wie seinen beiden Begleitern – nicht geheuer vorkam.
Nicoles dienstbeflissener Blick galt ihrem Handy. Es war exakt 17:48 Uhr.
»Was‘n los, Eric? Karin?«
Manny wirkte hilflos.
Karin zuckte mit den Schultern. Verstört beugte sie sich über den regungslosen Techniker.
»Finger weg«, rief der Hauptkommissar, der im Eiltempo, gefolgt von Sebastian, die Eisentreppe hochhetzte und auf das Podium stürmte.
Prüfend legte er zwei Finger an den Hals des Opfers.
»Vorsicht, Chef«, schrie Nicole. »Stromschlag!«
»Danke für den Hinweis. Aber da schlägt garantiert nichts«, grantelte Eckensperger.
»Die schlechte Nachricht: Das hier ist ein Todesfall und die Bühne ab sofort gesperrt für den Auftritt der Spurensicherung. Die gute Nachricht: Das Konzert ist abgesagt! Manny braucht keine Massage und die Band keine Plakate mehr!«
Leseprobe 3
Alle sind wir Sünder
»Seiler, haben Sie meine Anweisungen nicht verstanden?«, blaffte Eckensperger in seinen billigen iPhone-Klon. »Wieso tanzt die ganze Musikerschar hier auf dem Festgelände an?«
»Das müssen Sie die schon selbst fragen. Bei mir haben lediglich der Tastenheini und der Saitenwürger abgehoben. Und ob die gecheckt haben, dass eine Einladung zu uns ins Präsidium Vorrang vor anderen Terminen hat, hat sich mir nicht erschlossen.«
»Was reden Sie so geschraubt daher? Leben Sie etwa bereits Ihre Schriftstellerkarriere aus? Warum sind Sie überhaupt noch im Kommissariat und nicht längst in der Wohnung des Verblichenen? Kollegin Sedlacek soll die Stellung im Büro halten, ich erwarte in Kürze weitere Ergebnisse der Spurensicherung.«
Tatsächlich hatten sich alle Bandmitglieder inklusive ihres Leaders an einem der obligaten Holztische zu einer Art Konferenz eingefunden.
Auf der Tagesordnung schien die Abarbeitung alkoholischer Getränke zu stehen, denn – oh Wunder – ein 24er Pack Bierdosen stand als kleine Zwischenmahlzeit ebenfalls griffbereit. Die beiden Frauen, Nancy und Elke, glänzten durch Abwesenheit, wobei erstere garantiert für die Zusammenkunft der Gruppe gesorgt hatte. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich etliche Reporter und Fotografen auf, die Manny und seine Mannen zum gestrigen Vorfall interviewen und Bilder vom geschockten Rockstar und der Unglücksbühne schießen wollten.
»Mauser, verbannen Sie die Pressemeute vom Gelände! Möchte wissen, woher die Aasgeier Wind von der Story haben.«
»Da hat die PR-Lady ihren Job wohl einmal professionell erledigt«, mutmaßte Mike, der seine liebe Not damit hatte, die widerspenstige Journalistentruppe mit dem Vermerk auf Spurenverwüstung vom Platz zu vertreiben.
Eckensperger richtete währenddessen auf dem Nebentisch, dem mittleren, ein provisorisches »Büro« ein. Sprich, er deponierte seinen unvermeidlichen Notiz-block und zwei am oberen Ende abgekaute Bleistifte. Seine Schreibgeräte hatten seit dem Lehrgang »Gewaltfreie Kommunikation – die sanfte Form der Gesprächsführung« vermehrt zu leiden. Für jede resche Äußerung, die er sich verbiss, musste er auf irgendeine Weise Dampf ablassen, da kamen Kugelschreiber & Co. gerade recht.
Michael Mauser hieß er Platz zu nehmen und den Laptop zu starten.
Kurzentschlossen nahm der Chefermittler die Bierdosenpackung, wuchtete sie auf den dritten Tisch und verkündete: »Wir werden Sie jetzt getrennt voneinander befragen, wenn Sie hier schon so fröhlich versammelt sind. Wer fertig ist, darf zu den Getränken weiterwechseln. Solch ein Service gibt‘s im Wachzimmer natürlich nicht, auf das wir Sie sonst bitten müssten. Also, wer will anfangen?«
Die Auswahl war groß, vier Hände schossen in die Höhe. Lediglich Roman Raifeder, der Keyboarder, schien keine Eile zu haben oder darauf zu vertrauen, die Kollegen ließen ihm seinen Hopfenteeanteil übrig.
Dem Kommissar kam das seltsam vor, außerdem war er für unkalkulierbare Aktionen bekannt.
»Dann beginnen wir am besten mit jenem Kandidaten, der sich nicht gemeldet hat. Dezente Zurückhaltung soll belohnt werden.«
Der Aufgerufene erhob sich zögerlich, der Rest der Crew murrte.
Von seiner dunklen, unordentlichen Haarmähne, die von zahlreichen Silberfäden durchzogen war, abgesehen, sah der von Seiler »Tastenheini« titulierte von den Bandmusikern am alltäglichsten aus. Unauffällige Jeans, ein olivfarbenes »Slipknot«-T-Shirt, ehemals weiße Sportschuhe. Keine Ringe, Tätowierungen, Flinserln oder sonstige Absonderlichkeiten.
Ergänzend zu den tags zuvor erhobenen, persönlichen Angaben und Romans Schilderungen zum Tathergang, wollte Eckensperger nun Näheres über dessen Verbindung zum Toten hören.
»In welchem Verhältnis standen Sie zu Herrn Eric Brunner?«
»In absolut keinem. Er machte sein Ding, ich meins. Im Gegensatz zu den anderen muss mein Instrument weder gestimmt noch eingespielt werden. Luuk baut es auf, ich schalte es ein. That‘s it! Eric brauchte auch nichts daran zu reparieren wie bei den Gitarren. Denen hat er des Öfteren ein Pimp up verpasst. … Wann ich ihn zuletzt gesehen habe? Na, Sie fragen Sachen! Ich führe ja kein Tagebuch. Wird ungefähr fünf Jahre her sein. Da hat er für ein paar Gigs Bernie an der Leadgitarre ersetzt, weil der für längere Zeit ausfiel. Ich hätte den Eric gestern kaum wiedererkannt, hätte er nicht dieselbe abgefuckte Jacke getragen.«
»Ist Ihnen an Herrn Brunner etwas aufgefallen? War er bedrückt? Aufgeregt? Verängstigt?«
»Sehe ich aus, als interessiere mich das?«, nörgelte der Keyboarder gefühlskalt.
»Ich merke, Sie sind ein Philosoph!«, konnte sich Eckensperger nicht verkneifen.
»So ungefähr!«
»Ein ungefährer Philosoph?«
»Nein, ein Spinner. Das ist nahezu das Gleiche.«
»Und was spinnen Sie sich zusammen, wenn der Tag lang ist und unerfreulich endet wie gestern?«, drängte der Hauptkommissar nach.
»Dass der Eric besser aufpassen hätte sollen. Immerhin ist er ein erfahrener Techniker. Klingt hart, ist es auch. Wie das Leben im Allgemeinen und das von Tontechnikern im Besonderen.«
»Doch ein Philosoph«, warf Mike dazwischen.
Nennenswertes war aus dem Auftaktzeugen nicht herauszukriegen. Insgesamt wirkte er mitleidlos, abgeklärt und kaltschnäuzig. Jeder andere hätte entmutigt die Befragung eingestellt. Nicht so der routinierte Ermittler.
»Ich lasse Sie erst vom Haken, sobald Sie mir über Eric irgendetwas erzählen, womit ich weiterarbeiten kann«, setzte er sein »Opfer« unter Druck.
Roman räusperte sich, drehte sich zum Nebentisch, auf dem seine Kumpels gespannt in seine Richtung starrten und murmelte hinter vorgehaltener Hand: »Eric hat hie und da Stoff vertickt. Von uns nimmt keiner mehr was Härteres seit der Geschichte mit Charlys Schwester. Die ist von einem ihrer Horrortrips irgendwie nicht wieder heimgekehrt. Schlimme Sache. Hat den Eric ebenfalls ganz schön geflasht. Doch der ist scheint‘s nicht losgekommen von dem Zeug. Schlimme Sache, ehrlich, aber nicht zu ändern. That‘s Life.«
Wie zum Abschluss nickte Roman, der Spinner. Seine Bandkollegen warfen ihm finstere Blicke zu. Ungerührt erhob er sich, trottete einen Tisch weiter und krallte sich die erste Blechbüchse. Damit hatten die übrigen vier einen zusätzlichen Grund, düster dreinzuschauen.
Logischerweise kam Charly, der Bassist, als Nächster an die Reihe. Im Gegensatz zum Philosophen war er der Gruppenclown. Karl Oberpolzer trug ein dunkelgraues T-Shirt mit der wichtigen Info »Ich bin wie ich bin. Die einen kennen mich, die anderen können mich.«, beige Cargohosen und trotz der Septembertemperaturen Badesandalen mit einem Trenner zwischen der großen und den übrigen Zehen. Finger- und Zehennägel waren schwarz lackiert, die rechte Hand zierten drei gewichtige Silberringe.
»Guten Tag, Herr Inspektor«, beeilte er sich zu witzeln. »Mein Name und meine Wohnadresse haben sich nach dem gestrigen Verhör nicht geändert. Hier ist mein Führerschein, meine E-Card, mein Pensionistenausweis und meine VIP-Karte für den Getränkegroßhandel. Außerdem habe ich noch eine Glücksmünze, ein benutztes Taschentuch und ein Loch in meinem Hosensack. Gestern Abend habe ich gesundheitspolitische Maßnahmen gesetzt und …«
»Heben Sie sich Ihre Show für die Auftritte auf«, polterte Eckensperger, »und benehmen Sie sich wie ein Erwachsener, nicht wie ein Vollidiot. Wo Sie letzten Abend waren, ist für unsere Recherchen im jetzigen Stadium unerheblich. Allerdings liegen uns Aussagen vor, Sie hätten ausgiebig in einem Promischuppen gefeiert.«
»Ja, eh.«
»Was soll dann das Gerede mit den gesundheitspolitischen Maßnahmen?«
»Na, vor jedem Schluck haben wir uns mit ›Gesundheit‹ zugeprostet und auf die eigene getrunken. Kann ja recht schnell mit einem zu Ende gehen, wie wir davor erlebt haben.«
Der Begriff »Vollidiot« drängte sich dem Kommissar erneut auf.
»Ich will von Ihnen erfahren, was Sie mit dem Tontechniker bisher zu tun hatten.«
»Rein gar nichts, außer ein paar gemeinsamen Gigs in einem früheren Leben! Danach habe ich ihn bis gestern jahrelang nicht getroffen, nur hie und da was in der Szene von ihm aufgeschnappt. Soviel ich weiß, war Eric in einer Pokerrunde mit Bernie, Jack und Lenny. Ging um eine ganz schöne Menge Geld, wie ich hörte. Und Eric brauchte ordentlich Moneten für seinen täglichen Bedarf. Hatte daher ziemliche Schulden. Bei Jack zum Beispiel wird gemunkelt.«
»Und was ist mit Ihrer Schwester?«, erhöhte Eckensperger den Vernehmungsdruck.
Ihm war aufgefallen, wie gezielt sich Karl Oberpolzer mit Motiven anderer aus der Schusslinie bringen wollte. Die Namen der Zocker hatte der Beamte notiert. Durchdringend sah er seinen Zeugen an. Der amüsierte Zug um Charlys Mund verschwand, seine Schultern sackten nach unten, und seine Augen irrten unruhig umher.
»Was soll mit Evchen sein?«
»Nun, unseren Ermittlungen zufolge wurden ihr von Eric harte Drogen offeriert? Das hat ihr übel mitgespielt, oder?«
»Dieses Arschloch! Nicht, dass Sie glauben, er hätte im großen Stil gedealt. Er hat ihr halt hie und da was gegeben, und sie war neugierig, hat einiges ausprobiert. Rund vierzig Jahre ist Eva schon in einer Klinik und erholt sich einfach nicht. Schwerst suizidgefährdet, völlig neben der Spur, meist erkennt sie mich nicht einmal. Als ob sie sich nach und nach auflöst. Umgebracht hab‘ ich den Eric, das Drecksstück, deswegen noch lange nicht. Ich wollte miterleben, wie er selbst scheibchenweise vor die Hunde geht. Hätte nicht mehr ewig gedauert, er sah ja bereits seit geraumer Zeit aus wie der wandelnde Tod.«
»Dann haben Sie ihn doch immer wieder gesehen?«, warf Eckensperger geistesgegenwärtig dazwischen.
Diese Fährte wirkte durchaus verfolgenswert.
»Nicht direkt, eher aus der Ferne. Er musizierte hie und da in kleinen Clubs, in der Pause ging er mit dem Hut absammeln. Jämmerlich. Dabei hatte er von uns allen unbestritten am meisten Talent. Ich hielt mich stets im Hintergrund, wollte bloß auf dem Laufenden sein, wie es um ihn stand. Wäre er groß rausgekommen, hätte ich ihm vielleicht etwas angetan. Aber so einem Wrack? Der war gestraft genug.«
»Trotzdem haben Sie ein gewaltiges Motiv, Herr Oberpolzer. Bleiben Sie in der Stadt, und halten Sie sich weiterhin zu unserer Verfügung.«
Damit wurde Charly, dem das Blödeln sichtlich vergangen war, fürs Erste entlassen.
»Lenny ist jetzt gleich wer?«, erkundigte sich Eckensperger, seine Mitschrift analysierend.
»Wahrscheinlich Leonhard Bloch, der heisere Drummer«, dozierte Mike wichtigtuerisch. »Der, der die Haare um den Mund statt oben auf dem Kopf trägt.«
Mit kratziger Stimme erläuterte der aufgerufene Schlagzeuger kategorisch: »Keine Ahnung, was Sie von mir wollen, ich verspürte keinen Drang, Eric aus der Welt zu schaffen. Im Gegensatz zu manchen anderen. Schließlich hatte der früher was mit unserem Goldkehlchen Nancy. Wussten Sie das? Ist mittlerweile natürlich minimal über dem Ablaufdatum, die Gute. Dabei war die in den späten 70ern und frühen 80ern ein heißer Feger. Womöglich wollte die noch was von ihm? Und er ließ sie abblitzen? Man sagt doch, es gibt keinen größeren Zorn als den einer Frau, die nicht erhört wird. Darüber hat Manny höchstpersönlich einen Song geschrieben. ›Son Of A Bitch‹ heißt er. Ist meist unsere erste Zugabe.«
Wann er den Toten zuletzt gesehen hatte, wollte Herrn Bloch nicht so recht einfallen.
»Lebendig?«
»Der nächste Möchtegernpausenclown«, dachte Eckensperger. Laut merkte er ätzend an: »Ich helfe Ihrem Gedächtnis mal auf die Sprünge. Wann stieg denn die letzte Pokerpartie?«
Der Musiker pfiff erstaunt durch die Lippen. Sogar sein Pfeifton klang irgendwie heiser.
»Ja, wann war denn das?«
»Eventuell hilft ein Blick in Ihr Handy, bevor wir es konfiszieren und uns schlaumachen«, schlug Mike hämisch vor. »Fliegen haben kurze Beine.«
»Hä? … Also das mit der letzten Begegnung muss ziemlich exakt … zwei, nein drei Wochen her sein. Am Montag darauf kehrte meine Frau von Ihrem Wellnessurlaub zurück, seither hab‘ ich an keiner Runde mehr teilgenommen. Trautes Eheleben, Sie verstehen?«
Der Kommissar verlangte nähere Auskünfte zum erwähnten Glücksspielabend.
»Tja, ich bin mit einem blauen Auge davongekommen. Bernie hat massiv verloren, Eric nach anfänglichen Gewinnen ebenso ein paar Zehner. Jack hat die große Kohle gemacht. Ich bin mit Bernie um knapp nach zwei zum nahen Taxistandplatz, waren erfreulicherweise grad zwei Autos da. Wir sind eingestiegen und heimwärts gefahren, getrennt, versteht sich. Eric und Jack blieben noch. Sollte mich nicht wundern, wenn Eric den Dicken um Geld angehaut hätte. Von mir hat er sich auch immer wieder was geliehen. Manchmal hab‘ ich ihm schnell einen Hunderter zugesteckt, ich verfüge ja über ein geregeltes Einkommen durch meine kleine Schlagzeugschule. Zurückgekriegt hab‘ ich nie was. Wollte ich gar nicht. Eric war irgendwie ein armer Hund, aber ein genialer Musiker sowie beständiger Kartenbruder. Und unter Kollegen hilft man sich, so ist das nun mal.«
»Damit wollen Sie mir klarmachen, es gab für Sie keinen Beweggrund, Eric etwas anzutun?«
»Korrekt, Herr Oberinspektor!«
»Dann knöpfen wir uns jetzt Bernie, den massiven Verlierer, vor«, verkündete Eckensperger, während Lenny sich mit dem Auftrag, das Land nicht zu verlassen, zu seinen beiden Kumpels und dem schrumpfenden Bestand an »Blechbrötchen« gesellte.
Selbstverständlich hatte auch der Sologitarrist im knöchellangen Beerdigungsmantel und mit dunkler Sonnenbrille nichts gegen Eric gehabt. Zeitweise durch diesen ersetzt worden zu sein, hätte er begrüßt, weil er sich von ihm bestens vertreten gefühlt hatte.
»Warum sind Sie eigentlich damals gleich für etliche Wochen ausgefallen?«, forschte der Kommissar nach.
»Nichts ist mir aufgefallen«, konterte der Befragte prompt.
»Dazu später. Ich will wissen, warum Sie längerfristig AUSgefallen sind«, wiederholte Eckensperger mit erhobener Stimme.
»Ach so! Böser Sturz die Eisentreppe im Probelokal runter. Becken- und Oberschenkelhalsbruch, längerer Spitalsaufenthalt. Jetzt hab‘ ich einen Metallstift in der Hüfte.«
»Interessant! Über den langen Mantel gestolpert? Mit der schwarzen Brille zu wenig Durchblick gehabt? Dermaßen schlimm stürzen gewöhnlich nur sehbehinderte oder besonders gebrechliche Menschen mit nachlassender Reaktionsfähigkeit?«, wunderte sich der leitende Kriminalbeamte.
»Oder Sturzbesoffene«, warf Mike ein. »Wie der Name so schön sagt.«
»Da kommen wir der Ursache schon näher«, gab Bernd Schönfried unumwunden zu. »Hatte tatsächlich ein bisschen zu viel getankt. Rumms, Bums, Ende Gelände. Ich kann mich kaum mehr an was erinnern.«
»Vielleicht, wann Sie Eric zuletzt gesehen haben?«, nahm Eckensperger das eigentliche Thema wieder auf.
»Na, gestern! Sie waren ja dabei!«
»Davor, meine ich, Sie Rhinozeros!«
Der Kommissar versuchte tagtäglich aufs Neue, ein netter, höflicher Mensch zu sein. Aber manchmal spielte sein Mundwerk einfach nicht mit.
»Kein Grund, angriffig zu werden. Ich hab‘ nichts zu verbergen. Ende August, an einem Freitag, bei unserem Pokerturnier. War ein rabenschwarzer Abend für mich und mein Konto.«
»Ach, deshalb die Brille, der Hut und der Mantel?«, konnte sich Eckensperger nicht verkneifen.
Mike grinste. Im Umgang mit lästigen Zeugen schien sein Ex-Boss nach wie vor der Alte zu sein.
»Oh, ganz ein Lustiger, der Herr Kommissar. Mit Wuchteln werden Sie den Fall nicht lösen. Bei mir verschwenden Sie soundso Ihre Spucke. Manny kann Ihnen sicher wesentlich Spannenderes über Eric erzählen. Schließlich hat er ihn ›entdeckt‹. Dann hat Eric die Nancy ›entdeckt‹ und schlussendlich hat der Manny entdeckt, dass der Eric auf ›seine‹ Sängerin steht. Daraufhin musste unser Genie die Gruppe verlassen. Meine Chance. Weil ich dadurch Gitarrist und fixes Besetzungsmitglied wurde, meine ich. Eric durfte hernach hie und da aushelfen, gegen ihn ausgetauscht hätte Manny mich nie und nimmer.«
»So betrachtet hätte ja Eric bessere Gründe gehabt, Manny etwas anzutun als umgekehrt. Das mit dem Verhältnis zwischen Eric und Nancy wird den Bandleader nach all den Jahren wohl nicht sonderlich gekratzt haben«, warf Mike ein.
»Ja, Eric ist abgekratzt. Viel zu früh, wenn Sie mich fragen.«
»Da drehen Sie meinem Mitarbeiter das Wort im Mund um«, korrigierte Eckensperger. »Sagen Sie, hören Sie schlecht?«
»Wie bitte? Ah, schlecht hören! Klar höre ich schlecht. Mein Platz in der Formation ist direkt vor dem Schlagzeug. Was glauben Sie, was da lautstärkenmäßig abgeht? 120 Dezibel locker. Ist zwar nicht easy für einen Instrumentalisten, schwerhörig zu sein, hat aber durchaus seine Annehmlichkeiten: Ich krieg‘ nicht jedes Gemotze von Manny mit oder falls unser Bassist mal ›in den Gatsch greift‹. Und privat hab‘ ich den besten Vorwand, wenn ich die Arbeitsaufträge meiner Freundin verpasse.«
Mikes ungeduldige Seufzer, mit denen er die Schilderung kommentierte, nahmen zu. Er wollte zurück zu seiner Frage, bevor sich Bernd Schönfried endlos über Vor- und Nachteile seines Sinnesverlusts ausließ. Gereizt wiederholte der Polizist seine Einschätzung, die längst vergangene Romanze mit Eric gäbe heutzutage eher keinen Anlass für einen Racheakt des Gruppenchefs am Bühnentechniker ab.
Bernie war anderer Meinung und hatte offenbar einen weiteren Pfeil im Köcher.
»Alte Liebe rostet nicht. Meine Rede, denken Sie daran. Zusätzlich könnte Eric Manny unter Druck gesetzt haben. Image und so.«
»Das müssen Sie mir jetzt näher erklären!«, wurde der Musiker aufgefordert.
»Na, der Manny ist ja mittlerweile ein ganz Solider geworden. Was glauben Sie, warum der die Bierdose gestern zurückgeworfen hat?«
»Kunststück! Er war längst beim Gin angelangt, wie meine Kollegin berichtete.«
»Von wegen! Lassen Sie sich bloß nicht täuschen. In den Ginflaschen ist pures Wasser. Seit Jahren. Und Eric wusste mit Bestimmtheit noch Gravierenderes über unseren Frontman, was für die Presse ein gefundenes Fressen gewesen wäre. Da genügte ein Blick zwischen den beiden, und Eric bekam, was er wollte. Also zum Beispiel den nächsten Technikerjob, eine höhere Gage, einen Gig, den wir ablehnen mussten, weil wir bereits für denselben Tag gebucht waren …«
Eckensperger füllte einen frischen Zettel auf seinem Schreibblock. Danach spulte er seinen amtlichen Schlusssatz ab und schickte Bernd Schönfried an den Biertisch.
Zu seinem Assistenten rekapitulierte er: »Interessant, wie jeder auf den Nachfolgenden verweist und eine Ursache für dessen Differenzen mit Eric findet. Das ist ja wie im ›Reigen‹!«
»Ach Boss, hören Sie mir auf mit Kindertänzen.«
Mikes Allgemeinbildung ließ echt zu wünschen übrig.